Die Anfang des 20ten Jahrhunderts spielende Geschichte um Milchmann Tevje und das Dörfchen Anatevka wirkt im Jahr 2023 greifbar und aktuell. Cusch Jung scheut sich nicht, Anspielungen auf jüngere politische Entwicklungen mit in die Inszenierung einfließen zu lassen. Dabei bleibt das Stück vor allem eines: fundamental menschlich.

Im kleinen Örtchen Anatevka lebt die jüdische Gemeinde ein ruhiges wenn auch ärmliches Leben. Mit den „anderen“, den Christen und den Soldaten des Zaren, die auch im Dorf wohnen, hat man wenig zu tun. Leben und leben lassen scheint die Devise zu sein.
Milchmann Tevje (Milko Milev) und seine Frau Golde (Angela Mehling) haben 5 Töchter und kommen gerade so über die Runden. Als durch die Bemühungen der Heiratsvermittlerin Jente (Sabine Töpfer) eine Verbindung zwischen seiner ältesten Tochter Zeitel (Olivia Delauré) und dem Fleischer Lazar Wolf (Michael Raschle) möglich erscheint, stimmt er dieser zunächst zu. Als sich jedoch herausstellt, dass Zeitel längst in Schneider Mottel verliebt und gar mit ihm verlobt ist, lässt er sich umstimmen.
Alle drei der heiratsfähigen älterem Töchter Tevjes verlieben sich in „unpassende“ Männer. Mottel ist zwar arm, aber er ist wenigstens in die Dorfgemeinschaft eingebunden und hat einen soliden Beruf. Anders Student Perchik (Peter Kubik), der kurz vorm Schabbat im Dorf auftaucht, große Töne von der Revolution spuckt und sich kurz darauf in Tevjes Tochter Hodel (Nora Lentner) verliebt. Die beiden gehen einen Schritt weiter auf dem Weg in die Moderne und stellen Tevje vor vollendete Tatsachen. Sie werden heiraten und sie bitten ihn nicht um Erlaubnis, wohl aber um seinen Segen. Nach einigem Hadern mit sich selbst stimmt Tevje schließlich zu.
Tevje ist durch das ganze Stück hindurch die Bezugsperson für den Zuschauer. Immer wieder reißt er in seinen Monologen, seinen Geprächen mit Gott oder wenn er das Publikum direkt adressiert, die vierte Wand ein und macht das Geschehene spürbarer. Er ist aktiv daran beteiligt, die festgefahrenen Traditionen im Dorf aufzuweichen, nicht als Revolutionär aber als Mensch, der abwägt, nachdenkt und nicht einfach blind den immer gleichen Doktrinen folgt. Als Perchick bei Zeitels Hochzeit die Absperrung zwischen der Männer und Frauenseite der Feier überschreitet und gar Hodel zum Tanz auffordert, genügt es Tevje dass der Rabbi tatsächlich keine Bibelstelle finden kann, die dies verbietet, um gleich darauf Golde zum Tanz aufzufordern und den Skandal damit quasi aufzulösen.
Tevjes Leitfäden im Leben sind Gott und „das gute Buch“. So ist es dann auch keine Überraschung dass er die Verbindung zwischen Chava (Maria Hammermann) und dem Christen Fedja (Stephen Budd) die sich über ihre Liebe zum Lesen kennen und lieben lernen, nicht gutheißen kann und sie schließlich schweren Herzens aus der Familie verstößt als er herausfindet, dass sie heimlich geheiratet hat und konvertiert ist.
Leid und Glück gehen in Anatevka Hand in Hand. Auch die Musik spiegelt dies wieder, wechselt von Dur nach Moll, von eher klassischen Kompositionen in die Volksmusik und wieder zurück, stets getragen von den Klängen des Akkordeons (Musikalische Leitung Florian Kießling). Nicht nur Tevjes „Wenn ich einmal reich wär“ hat das Potential zum Ohrwurm und ein wie üblich spielfreudiges und stimmgewaltiges Ensemble macht das Musical zu einem echten Ohrenschmaus. Urkomische Momente wie Tevjes (erfundener) Albtraum von Oma Zeitel (Martina Mühlnikel), emotionale Szenen wie das Lied „Ist es Liebe“ in dem sich Tevje und Golde an ihre 25 gemeinsamen Jahre zurückerinnern, mitreißende Tanzszenen (Choreographie: Mirko Mahr) und tieftraurige Momente finden alle ihren Platz im Stück.
Das Bühnenbild (Bühne und Kostüme: Karel Spanhak) besteht aus einfachen Holzhäusern und einer Leinwand im Hintergrund auf die je nach Tageszeit verschiedene Landschaftsbilder projiziert werden. Einige Elemente sind beweglich, doch insgesamt bleibt die Handlung beschränkt auf einen Mikrokosmos. In Anatevka bekommt man von der Welt „da draußen“ eben wenig mit.
Auch politisch ist dies der Fall. Die Soldaten sind zwar von Beginn an Teil der Geschichte, doch ihre Anwesenheit wird nicht als Bedrohung wahr genommen. Im Gegenteil: In der Kneipenszene in der Tevje und Lazar Wolf sich über die Hochzeit mit Zeitel einig werden, gratulieren ihnen die anwesenden Russen sogar und tanzen und trinken mit den Juden gemeinsam. Dass der friedliche Schein trügt wird jedoch schon kurz darauf deutlich als der Wachtmeister (Günter Schoßböck) Tevje wissen lässt, dass er von seinen Vorgesetzten Befehl hat eine „kleine Demonstration“ im Judenviertel durchzuführen. Nur wenige Monate später kommt ein weiterer Befehl. Die Juden müssen binnen drei Tagen das Dorf verlassen.
Die Menschlichkeit des Wachtmeisters und seiner Soldaten lässt einen bitteren Geschmack zurück. Es wird allzu deutlich, dass sie nicht aus freien Stücken handeln, dass sie nicht einmal wissen, warum sie die jüdische Siedlung verwüsten: Es ist die Sinnlosigkeit des Krieges, heruntergebrochen ins Detail.
Die Kurtine zeigt ein Bild vom echten Dorf Perejaslaw. Aus einem Flüchtlingslager in der Ukraine wurde nach 2014 langsam aber stetig ein echtes Dorf; ein Dorf aus dem die Bewohner 2023 erneut fliehen mussten: Moderne Parallelen bei denen sich unweigerlich die Frage auftut, ob der Mensch eigentlich lernfähig ist.
Die beiden Akte von „Anatevka“ beginnen und enden jeweils mit dem Fiedler auf dem Dach, eine Geistergestalt, eine Metapher, eine Idee Tevjes, der schon in seinem einleitenden Monolog erklärt, „Jeder von uns ist ein Fiedler auf dem Dach. Jeder versucht, eine einschmeichelnde Melodie zu spielen, ohne sich das Genick zu brechen.“
Das Leben muss weitergehen. Und so packen die Juden im Dorf ihre Sachen und machen sich auf die Reise: Nach Amerika, nach Jerusalem. Die Dorfgemeinschaft wird gewaltsam aufgelöst. „Anatevka“, das Abschiedslied der Dörfler für ihre Heimat ist tief berührend und bedrückend zugleich, die symbolträchtige Schlussszene in ihrer Bildsprache ein würdiger Abschluss eines nachdenklich machenden Theaterabends zwischen Lachen und Weinen.
Text: Julia Weber