Unerwartet – Ballett „Der Kleine Prinz“ in der Oper Leipzig

Bryan Arias erfindet Antoine de Saint-Exupéris philosophisches Märchen neu und bleibt doch dem Original treu.

Ein Kinderzimmer, winzig im Schatten eines großen Planeten. Ein Junge sitzt im Schneidersitz vor einem Fernseher. So beginnt die Geschichte von „Der kleine Prinz“ in der Oper Leipzig. Kein Flugzeugabsturz in der Wüste, kein Pilot der einem seltsamen Jungen begegnet oder ihn sich vielleicht auch nur einbildet. Statt dessen ein Junge im Schlafanzug (Landon Harris), ein Fuchs und eine Schlange als Kuscheltiere, ein Bild von einem Hut (oder einem Elefanten in einer Schlange?) an der Wand, ein altmodisches Modell-Propellerflugzeug auf dem Regal, eine einzelne Rose neben dem Foto der Mutter auf dem Fernseher.

Im Mikrokosmos des Zimmers begegnet der Zuschauer dem eitlen älteren Bruder (Facundo Luqui) und dem Vater des Jungen (Carl van Godtsenhoven). Der schwelende Konflikt zwischen den Brüdern wird nur dann abgemildert wenn der Vater zugegen ist.

Aus dem Fenster schauend erspäht der Junge ein Mädchen, Rose (Madoka Ishikawa), und verliebt sich in sie. Später trifft er sie auf einem Dorffest wieder bei dem auch andere bekannte Gestalten aus dem Märchen auftauchen. Der Säufer (Pedro Luz), der Geschäftsmann (herrlich überzogen als geiziger Vermieter, Joao Ludwig) und die Raucherin (Yun Kzeong Lee) haben alle ihre Auftritte. Auch tauchen zwei Piloten (Evelina Andersson und Marcelino Libao) auf, deren Geschichten den Jungen faszinieren. Der Pas de Deux der beiden wird zum Pas de Trois. Sie schenken dem kleinen Prinzen seinen gelben Schal und wecken in ihm die Sehnsucht nach der weiten Welt, eine Szene, die sicherlich zu den Highlights des ersten Aktes gehört.

Die Figur der Rose sticht heraus. Sie fällt auf und ist in den Augen des kleinen Prinzen besonders, auch anders als die anderen Rosen. Tänzerisch wird das noch einmal besonders deutlich als er später in der Stadt einer Gruppe Mädchen begegnet, die alle seiner Rose ähneln. Zwar heben sie sich von den anderen Städtern mit ihren abgehakten Bewegungen und der grauen Kleidung ab, da ihre Szene die einzige auf Spitze getanzte Sequenz enthält, doch keine von ihnen tanzt so, wie es Rose in ihrem Solo im Dorf tat.

Als eine Busfahrerin (Ester Ferrini) ihm eine Fahrt in die große weite Welt verspricht, sieht sich der kleine Prinz hin und her gerissen zwischen seinen Gefühlen für Rose und seiner Wissbegierde. Am Ende siegt jedoch die Abenteuerlust.

Im Grau der Großstadt sticht der Prinz in seinem Outfit aus grüner Hose, grüner Jacke und gelben Schal heraus. Ein Polizist (Alessandro Repellini) wird ebenso auf ihn aufmerksam wie ein Drogendealer (Marcos Vinicius Da Silva), dessen Body rolls und schlangenartige Bewegungen am Boden deutliche Begeisterung beim Publikum hervorrufen). In den Häuserschluchten begegnet der kleine Prinz einer Migrantin (anmutig und witzig, Vivian Wang) und freundet sich nach einigen Anfangsschwierigkeiten mit ihr an. Der spielerische Pas de Deux der beiden wird jedoch harsch unterbrochen als sie vom Polizisten festgenommen wird, eine erschütternde Erfahrung für den kleinen Prinzen.

Die Geschichte auf der Bühne ist anders als die Buchvorlage und doch findet man alle Aspekte in ihr wieder. Das simplistische Bühnenbild (Alain Lagarde) vermittelt durchweg das Gefühl, dass man sich in einer Traumwelt befindet, obwohl die Geschichte, die erzählt wird, eine sehr aktuelle, realitätsnahe ist. Die Musik von Helge Burggrabe, Milana Zilnik und Raph Vaughan Williams unterstützt dieses Gefühl ebenso wie die Choreographie, in der sich contemporary Elemente und klassische Einflüsse zu einem ästhetischen Ganzen fügen.

Das Stück gliedert sich in vier Teile. Vom Mikrokosmos des Kinderzimmers geht die Reise ins Dorf, von dort in die Anonymität der Großstadt und schließlich in die Weite der Wüste, wo der kleine Prinz nach all seinen Erlebnissen wieder mit seinen eigenen Gedanken und Erinnerungen alleine ist.

Es ist dieser vierte Teil wo der Abend leicht schwächelt. Die Geschichte ist eigentlich auserzählt. Der kleine Junge vom Anfang ist ein Pilot geworden und in der Wüste abgestürzt – oder vielleicht ist diese gesamte Szene auch ein Teil seiner drogeninduzierten Halluzination? Im von der Decke rieselnden Sand begegnen ihm die wichtigsten Personen seines Lebens noch einmal in ihrer Märchengestalt (Kostüme: Bregje van Balen). Doch es passiert nichts, der Plot ist zu Ende, das Leben des Piloten rinnt mit dem Sand dahin. Tänzerisch und erzählerisch ist daran nichts auszusetzen doch für einige Zuschauer könnte diese Sequenz ein wenig lang erscheinen.

Insgesamt bietet „Der kleine Prinz“ einen nachdenklich machenden, tänzerisch anspruchsvollen Ballettabend.

Text: Julia Weber

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Berührend – „Anatevka“ in der Musikalischen Komödie Leipzig

Die Anfang des 20ten Jahrhunderts spielende Geschichte um Milchmann Tevje und das Dörfchen Anatevka wirkt im Jahr 2023 greifbar und aktuell. Cusch Jung scheut sich nicht, Anspielungen auf jüngere politische Entwicklungen mit in die Inszenierung einfließen zu lassen. Dabei bleibt das Stück vor allem eines: fundamental menschlich.

Foto: Kirsten Nijhof

Im kleinen Örtchen Anatevka lebt die jüdische Gemeinde ein ruhiges wenn auch ärmliches Leben. Mit den „anderen“, den Christen und den Soldaten des Zaren, die auch im Dorf wohnen, hat man wenig zu tun. Leben und leben lassen scheint die Devise zu sein.

Milchmann Tevje (Milko Milev) und seine Frau Golde (Angela Mehling) haben 5 Töchter und kommen gerade so über die Runden. Als durch die Bemühungen der Heiratsvermittlerin Jente (Sabine Töpfer) eine Verbindung zwischen seiner ältesten Tochter Zeitel (Olivia Delauré) und dem Fleischer Lazar Wolf (Michael Raschle) möglich erscheint, stimmt er dieser zunächst zu. Als sich jedoch herausstellt, dass Zeitel längst in Schneider Mottel verliebt und gar mit ihm verlobt ist, lässt er sich umstimmen.

Alle drei der heiratsfähigen älterem Töchter Tevjes verlieben sich in „unpassende“ Männer. Mottel ist zwar arm, aber er ist wenigstens in die Dorfgemeinschaft eingebunden und hat einen soliden Beruf. Anders Student Perchik (Peter Kubik), der kurz vorm Schabbat im Dorf auftaucht, große Töne von der Revolution spuckt und sich kurz darauf in Tevjes Tochter Hodel (Nora Lentner) verliebt. Die beiden gehen einen Schritt weiter auf dem Weg in die Moderne und stellen Tevje vor vollendete Tatsachen. Sie werden heiraten und sie bitten ihn nicht um Erlaubnis, wohl aber um seinen Segen. Nach einigem Hadern mit sich selbst stimmt Tevje schließlich zu.

Tevje ist durch das ganze Stück hindurch die Bezugsperson für den Zuschauer. Immer wieder reißt er in seinen Monologen, seinen Geprächen mit Gott oder wenn er das Publikum direkt adressiert, die vierte Wand ein und macht das Geschehene spürbarer. Er ist aktiv daran beteiligt, die festgefahrenen Traditionen im Dorf aufzuweichen, nicht als Revolutionär aber als Mensch, der abwägt, nachdenkt und nicht einfach blind den immer gleichen Doktrinen folgt. Als Perchick bei Zeitels Hochzeit die Absperrung zwischen der Männer und Frauenseite der Feier überschreitet und gar Hodel zum Tanz auffordert, genügt es Tevje dass der Rabbi tatsächlich keine Bibelstelle finden kann, die dies verbietet, um gleich darauf Golde zum Tanz aufzufordern und den Skandal damit quasi aufzulösen.

Tevjes Leitfäden im Leben sind Gott und „das gute Buch“. So ist es dann auch keine Überraschung dass er die Verbindung zwischen Chava (Maria Hammermann) und dem Christen Fedja (Stephen Budd) die sich über ihre Liebe zum Lesen kennen und lieben lernen, nicht gutheißen kann und sie schließlich schweren Herzens aus der Familie verstößt als er herausfindet, dass sie heimlich geheiratet hat und konvertiert ist.

Leid und Glück gehen in Anatevka Hand in Hand. Auch die Musik spiegelt dies wieder, wechselt von Dur nach Moll, von eher klassischen Kompositionen in die Volksmusik und wieder zurück, stets getragen von den Klängen des Akkordeons (Musikalische Leitung Florian Kießling). Nicht nur Tevjes „Wenn ich einmal reich wär“ hat das Potential zum Ohrwurm und ein wie üblich spielfreudiges und stimmgewaltiges Ensemble macht das Musical zu einem echten Ohrenschmaus. Urkomische Momente wie Tevjes (erfundener) Albtraum von Oma Zeitel (Martina Mühlnikel), emotionale Szenen wie das Lied „Ist es Liebe“ in dem sich Tevje und Golde an ihre 25 gemeinsamen Jahre zurückerinnern, mitreißende Tanzszenen (Choreographie: Mirko Mahr) und tieftraurige Momente finden alle ihren Platz im Stück.

Das Bühnenbild (Bühne und Kostüme: Karel Spanhak) besteht aus einfachen Holzhäusern und einer Leinwand im Hintergrund auf die je nach Tageszeit verschiedene Landschaftsbilder projiziert werden. Einige Elemente sind beweglich, doch insgesamt bleibt die Handlung beschränkt auf einen Mikrokosmos. In Anatevka bekommt man von der Welt „da draußen“ eben wenig mit.

Auch politisch ist dies der Fall. Die Soldaten sind zwar von Beginn an Teil der Geschichte, doch ihre Anwesenheit wird nicht als Bedrohung wahr genommen. Im Gegenteil: In der Kneipenszene in der Tevje und Lazar Wolf sich über die Hochzeit mit Zeitel einig werden, gratulieren ihnen die anwesenden Russen sogar und tanzen und trinken mit den Juden gemeinsam. Dass der friedliche Schein trügt wird jedoch schon kurz darauf deutlich als der Wachtmeister (Günter Schoßböck) Tevje wissen lässt, dass er von seinen Vorgesetzten Befehl hat eine „kleine Demonstration“ im Judenviertel durchzuführen. Nur wenige Monate später kommt ein weiterer Befehl. Die Juden müssen binnen drei Tagen das Dorf verlassen.

Die Menschlichkeit des Wachtmeisters und seiner Soldaten lässt einen bitteren Geschmack zurück. Es wird allzu deutlich, dass sie nicht aus freien Stücken handeln, dass sie nicht einmal wissen, warum sie die jüdische Siedlung verwüsten: Es ist die Sinnlosigkeit des Krieges, heruntergebrochen ins Detail.

Die Kurtine zeigt ein Bild vom echten Dorf Perejaslaw. Aus einem Flüchtlingslager in der Ukraine wurde nach 2014 langsam aber stetig ein echtes Dorf; ein Dorf aus dem die Bewohner 2023 erneut fliehen mussten: Moderne Parallelen bei denen sich unweigerlich die Frage auftut, ob der Mensch eigentlich lernfähig ist.

Die beiden Akte von „Anatevka“ beginnen und enden jeweils mit dem Fiedler auf dem Dach, eine Geistergestalt, eine Metapher, eine Idee Tevjes, der schon in seinem einleitenden Monolog erklärt, „Jeder von uns ist ein Fiedler auf dem Dach. Jeder versucht, eine einschmeichelnde Melodie zu spielen, ohne sich das Genick zu brechen.“

Das Leben muss weitergehen. Und so packen die Juden im Dorf ihre Sachen und machen sich auf die Reise: Nach Amerika, nach Jerusalem. Die Dorfgemeinschaft wird gewaltsam aufgelöst. „Anatevka“, das Abschiedslied der Dörfler für ihre Heimat ist tief berührend und bedrückend zugleich, die symbolträchtige Schlussszene in ihrer Bildsprache ein würdiger Abschluss eines nachdenklich machenden Theaterabends zwischen Lachen und Weinen.

Text: Julia Weber

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Mit viel Lokalkolorit und Frauenpower – „Don Giovanni“ in der Oper Leipzig

Katharina Thoma verlegt in ihrer Neuinszenierung die gesamte Handlung von Mozarts „Don Giovanni“ in ein typisches Leipziger Altbau-Mietshaus und macht die sonst leicht verwirrende Geschichte dadurch greifbarer, nachvollziehbarer und extrem unterhaltsam.

Foto Tom Schulze

Die Geschichte um den Frauenhelden Don Giovanni wurde seit der Uraufführung des Stückes im Jahr 1787 unzählige Male in der ganzen Welt aufgeführt. Es stellt sich also unweigerlich die Frage: Wie bringt man den Stoff so auf die Bühne, dass er für ein modernes Publikum funktioniert?

Schon zu Anfang der Ouvertüre hebt sich der Vorhang und gibt den Blick auf ein Mietshaus frei. Zur Linken hat der Zuschauer Einblick in einige Zimmer die sich auf drei Stockwerke verteilen und zu drei der fünf Wohneinheiten im Haus gehören. Wohnzimmer und Bad von Donna Anna und Don Ottavio (Olga Jelinkova und Josh Lovell), eine kleine Einzimmerwohnung mit Bad und Don Giovannis Dachgeschosswohnung. Die rechte Hälfte der Bühne nehmen Hausflur und Treppenhaus ein. Alles etwas grau, ein bisschen heruntergekommen, aber immerhin funktioniert (meistens) der Aufzug (Bühnenbild Étienne Pluss).

In diesem Umfeld sieht der Zuschauer schon während dem musikalischen Auftakt einige der Figuren aus der Geschichte ihrem Alltag nachgehen. Don Giovanni (Jonathan Michie) erwacht mit einer Frau im Bett und geht kurz darauf aus. Die Hausmeisterin – eine stumme Rolle, die der Geschichte aber einiges an Lebensechtheit einhaucht – kommt aus ihrem Kabuff unter der Treppe und beginnt Kippe rauchend den Flur zu fegen. Donna Annas Vater, der Komtur (Sebastian Pilgrim), sitzt im Wohnzimmer und liest ein Buch.

Durch die Entscheidung die gesamte Handlung auf dieses Haus zu konzentrieren, ergeben einige Handlungen plötzlich Sinn, die bei einem – wie im Libretto ursprünglich vorgesehenen – Ortswechsel eher Fragen aufwerfen. Donna Elvira, die von Don Giovanni betrogen wurde, zieht in die AirBNB Einzimmerwohnung ein und läuft ihm natürlich prompt über den Weg. Auch Zerlina und Masetto sind neue Mieter, die irgendwann mit einem Haufen Umzugshelfer durch die Tür poltern.

Immer wieder folgt man der Handlung an einer Ecke des Hauses während in der anderen Ecke währenddessen kleinere Nebenhandlungen stattfinden, was das Gefühl vom typischen Stadtleben unterstreicht.

Das Leipziger Lokalkolorit blitzt ebenfalls regelmäßig durch: So ist Leporello (Sejong Chang) zwar Don Giovannis Diener, allerdings kann er von dem Geld das ihm das einbringt anscheinend nicht leben, denn er arbeitet außerdem als Fahrradkurier für einen der bekannten Essenslieferdienste. Während der Schlussszene – nach dem Tod Don Giovannis dem das Mietshaus gehörte – tauchen plötzlich eine Maklerin und drei Anzugträger auf und nachdem zwei Geldkoffer den Besitzer gewechselt haben bekommt jede Mietpartei ein Kündigungsschreiben in die Hand gedrückt.

Die Spielfreude des gesamten Ensembles ist spürbar. Michies Don Giovanni ist ein überzeugender Drecksack, dem man sein Ableben von Herzen gönnt und seine Interaktionen mit Sejong Chang als Leporello funktionieren stimmlich wie schauspielerisch perfekt. Zerlina (Samantha Gaul) und Elvira (Kathrin Göring) haben nicht nur hervorragende Stimmen sondern auch eine großartige Bühnenpräsenz. Insgesamt macht es einfach Spaß, hier zuzuschauen, was dazu führt, dass das Gewandhausorchester immer wieder den Szenenapplaus im Saal abwarten muss (Musikalische Leitung: Jonathan Darlington).

Insgesamt ist Katharina Thomas Don Giovanni ein Don Giovanni der starken Frauen. Sei es Donna Elvira, die durch ihre Haltung und ihr Auftreten deutlichst klar macht, dass sie ihrem ehemaligen Liebhaber um Längen überlegen ist oder Zerlina, deren „Batti, batti, o bel Masetto“ hier ganz klar zur Verführungsnummer wird.

Wer einen modernen, mitreißenden und emanzipierten Don Giovanni erleben möchte, ist in der Oper Leipzig bestens versorgt.

Text: Julia Weber

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Aktuelle Thematik – „Die Juxheirat“ in der Musikalischen Komödie Leipzig

Die Musikalische Komödie zeigt mit “Die Juxheirat” eine der weniger bekannten Operetten von Franz Léhar (Inszenierung: Thomas Schendel). Schmissige Melodien und das immer noch aktuelle Thema der Verteilung der Geschlechterrollen sorgen für einen vergnüglichen Abend.

Foto: Tom Schulze

“Die Juxheirat” feierte im Jahr 1904 Premiere, ein Jahr vor Léhars wesentlich bekannterer Operette “Die lustige Witwe”. Die Thematik des Stücks ist immer noch aktuell. Es geht um Männer und Frauen, um Selbstbestimmung und Geschlechterrollen. Doch so sehr diese Thematik uns heute weiterhin beschäftigt, man merkt dem Material sein Alter mitunter doch stark an.

In der Villa der Brockwillers, einem protzigen Gebäude mit goldenen Säulen und Meerblick (Bühne: Stephan von Wedel) ist immer etwas los. Hausherr Thomas Brockwiller (Michael Raschle) ist Inhaber einer Automobilfirma und dadurch zum Milliardär geworden. “Neuer Adel,” wie der Haushofmeister (Mario Ramos) abfällig anmerkt. „Wo die Sonne der Kultur tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten“.

Brockwillers Tochter Selma hat nach einer gescheiterten Ehe mit einigen ihrer Freundinnen die Gruppe LvM – “Los vom Mann” – gegründet und lehnt alle weiteren Heiratskandidaten rundheraus ab. Als Harold von Reckenburg (Adam Sanchez) sich ankündigt ist sie dann auch fest entschlossen, diesen ebenfalls abzuweisen. Doch als eine Besucherin die sich als Miss Grant (Theresa Maria Romes) vorstellt, erklärt es handle sich bei Reckenburg in Wahrheit um dessen Schwester, der Selma einst den Mann ausgespannt hat und die sich auf diese Weise an ihr rächen möchte, beschließt Selma, sich einen Jux zu machen und auf das Werben einzugehen. In Wahrheit ist Grant jedoch besagte Schwester und Harold ist tatsächlich keine Frau in Herrenkleidung sondern ein Mann.

Auch in den Nebenhandlungen geht es um die Dynamik von Mann und Frau. Hier belästigt Brockwiller der wesentlich jüngere Klavierlehrerin Fräulein Edith (Julia Ebert), dort kommt von Reckenburgs Chauffeur Philly (Andreas Rainer) in die Bredouille weil er gleich mit zwei seiner ehemaligen Verlobten (Mirjam Neururer als Miss Phoebe und Nora Lentner als Miss Euphrasia) zusammentrifft. Und Selmas Bruder Captain Arthur (Jeffery Krueger) landet prompt mit Miss Grant im Bett kaum dass er ihr zum ersten Mal begegnet ist und spricht plötzlich von Liebe.

Am Ende stehen drei glückliche Pärchen auf der Bühne, scheinbar Beweis dass eben doch jede Frau einen Mann braucht, dass alles Sträuben gegen die Natur sich nicht lohnt. Doch “Die Juxheirat” hat durchaus Untertöne, die in eine völlig andere Richtung gehen. Was Selma und ihre Freundinnen final davon überzeugt, dass von Reckenburg eine Frau sein muss ist als sie beobachten wie Chauffeur Philly ihm im Rollenspiel beizubringen versucht, wie er sich der Milliardenerbin nähern solle. Auch Philly’s freundschaftlicher Umgang mit dem Haushofmeister ließe sich aus heutiger Sicht leicht als mehr als eine reine Männerfreundschaft interpretieren.

Während also einige der Grundstrukturen und Grundgedanken des Stückes durchaus in unsere Zeit übertragen werden können, gibt es immer wieder Textabschnitte, die aus heutiger Sicht nur als problematisch gelten können. Gegen Ende des ersten Aktes vergleicht Philly Frauen tatsächlich mit Essen. Auch die Aussage von Selmas Freundin Miss Euphrasia „Auf meinem Grabstein wird stehen: Hier liegt eine Jungfrau“ reflektiert eine Auffassung von Sex, die nicht mehr zeitgemäß sein kann. Daher ist es die richtige Entscheidung das Stück durch die Kostüme (Julia Burkhardt) klar in der Vergangenheit zu verwurzeln, wodurch diese inzwischen überholten Ansichten als das gesehen werden können: Amüsante Auswüchse der Zeit, in der „Die Juxheirat“ geschrieben und uraufgeführt wurde.

Das Ensemble der Musikalischen Komödie zeigt sich wie immer spielfreudig und zeigt eine qualitativ hervorragende Vorstellung. In schnelleren Gesangsabschnitten kommt es zu den für das Haus üblichen Überlagerungen zwischen dem großen Orchester und den Singstimmen, die das Verständnis der Texte etwas erschweren (Musikalische Leitung: Tobias Engeli), aber das tut dem Vergnügen kaum Abbruch. Wer über Momente historischen Chauvinismus hinwegsehen kann, wird bei „Die Juxheirat“ bestens unterhalten werden.

Text: Julia Weber

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Tiefschwarzer Humor – „Sweeney Todd“ in der Musikalischen Komödie Leipzig

In der frisch renovierten Musikalischen Komödie in Leipzig kann der Zuschauer aktuell Cusch Jungs Inszenierung des Sondheim-Musicals „Sweeney Todd“ erleben – mit viel historischem Charme, großartigen Stimmen und einem gehörigen Gruselfaktor.

Sweeeney Todd in "Mein Freund". Sweeney steht im Vordergrund und hält sein Barbiermesser in die Höhe, das Ensemble im Hintergrund zeigt dieselbe Geste
Foto: Tom Schulze

Die Mär von Sweeney Todd – spätestens seit dem Kinofilm von 2007 kennt die Geschichte auch in Deutschland beinahe jeder Musicalbegeisterte. Basierend auf verschiedenen Londoner Mythen tauchte der dämonische Barbier aus der Fleet Street 1846 zum ersten Mal im Groschenroman „The String of Pearls“ auf. Nach einigen Veränderungen insbesondere hinsichtlich der Beweggründe des Barbiers, der einst als Benjamin Barker ein unbescholtenes Leben führte und der nun unter dem Decknamen Sweeney Todd eine grausame Mordserie beginnt, entstand die Fassung, die wir heute kennen.

Historisch ist die Geschichte im viktorianischen London verankert, einer Zeit, in der gerade in den ärmeren Gegenden der Stadt häufig das Recht des Stärkeren galt. Jack the Ripper trieb sein Unwesen und der Gestank aus der Themse verpestete die Luft. „There is no place like London“ singt Matrose Anthony zu Beginn des Stücks, voller Begeisterung für die Stadt, doch Sweeney, dessen Bekanntschaft er an Bord gemacht hat, nimmt ihm schnell die Illusion.

Die Rückblende zu Sweeney‘s Vorleben mit seiner Frau und der kleinen Tochter kommt ohne große Effekthascherei aus. Nur Sweeney und Anthony sind auf der Bühne als er davon erzählt, wie Richter Turpin ein Auge auf Lucy Barker warf und daraufhin den Barbier für eine Tat zur Verbannung nach Australien verurteilte die dieser niemals begangen hatte.

Todd macht sich auf den Weg in die Fleet Street, sucht nach Hinweisen, was aus Lucy und seiner Tochter Joanna geworden ist und kriegt diese von Mrs Lovett, deren schlecht gehender Pastetenladen im selben Haus untergebracht ist, in dem er früher lebte. Nachdem Turpin sich an Lucy verging, besorgte diese sich vom Apotheker Gift. Die Tochter, Joanna, ist nun Turpins Mündel, inzwischen erwachsen und dem Richter ebenso ins Auge gefallen wie ihre Mutter zuvor.

Bühnen- und Kostümbild (KarinFritz) der Produktion in der Musikalischen Komödie orientieren sich stark am historischen Hintergrund, wobei die Kostüme bunt die unterschiedlichen modischen Trends des gesamten neunzehnten Jahrhunderts mit Steampunk-Einflüssen kombinieren. Die Drehbühne ermöglicht blitzschnelle Szenenwechsel zwischen Pastetenladen, Bäckerei, Sweeneys Arbeitsstätte und dem Hof vor Turpins Haus. Ein spielfreudiges Ensemble führt den Zuschauer in die Geschichte ein und etabliert zum ersten Mal das immer wiederkehrende Thema der Moritat von Sweeney Todd, mit dem die einzelnen Szenen miteinander verwoben werden. In den Massenszenen wird ebenso wie in den Quodlibets deutlich, dass der Umbau das akustische Problem der Musikalischen Komödie zwar verbessert, jedoch nicht ganz behoben hat. Hier kommt es weiterhin ab und zu dazu, dass Liedtexte nur schwer verstanden werden können wenn sie sich überlagern. Allerdings passiert dies deutlich seltener als in den der Renovierung vorangegangenen Produktionen.

Vikrant Submarian glänzt in der Titelrolle nicht nur mit Stimmbrillianz sondern auch bemerkenswerter Spielfreude. In Szenen wie „Mein Freund“, in dem Mrs Lovett ihrem neuen Mieter sein altes Barbiermesser zurückgibt und dieser daraufhin von der Rache an Turpin zu träumen beginnt, zeigen die ganze Bandbreite seiner stimmlichen und spielerischen Dynamik. Als Mrs Lovett ist ihm Sabine Töpfer spielerisch absolut ebenbürtig. Während zwischen den beiden zu Beginn des Stücks noch keine rechte Verbindung existiert, ändert sich das schlagartig im schmissigen Gassenhauer „Prälat“ in dem sie im Walzertakt ihren teuflischen Plan schmieden. Dass Mrs Lovett Sweeneys Opfer zu Pasteten verarbeiten wird, und damit nicht nur im übertragenen Sinne sondern ganz konkret dazu beiträgt, dass die Menschen sich gegenseitig auffressen, ist in seiner arm-gegen-reich Gegenüberstellung heute immer noch genauso aktuell ist wie zur Entstehungszeit der Geschichte.

Das zweite Paar neben dem Mörderpärchen Todd und Lovett sind der junge Anthony (Justus Seeger) und Todds Tochter Joanna (Anna Evans). Durch Zufall hört er sie an ihrem Fenster singen und verknallt sich Hals über Kopf in sie. Die ganze Geschichte um die Beiden wirkt stets ein wenig unglaubwürdig. Zu dem Zeitpunkt, als Anthony ihr den Vorschlag macht, sie aus London wegzubringen und zu heiraten, kennen die beiden sich kaum. Die Leipziger Inszenierung greift die Absurdität dieser Verbindung dadurch auf, dass es zwischen den beiden scheinbar Verliebten zu keiner körperlichen Nähe kommt und keines der vielen „Küss mich“ im gleichnamigen Lied den Worten auch Taten folgen lässt.

Ein Highlight des Stücks in Hinsicht auf dessen komische und satirische Seite ist stets die Szene in der Todd seinem Widersacher Turpin die erste Rasur verpasst und dabei über „Hübsche Frauen“ schwadroniert sowie die Szene in der der kleine Tobias „Pirellis Aqua Kapillare“ als Haarwuchs-Wundermittel anpreist sowie der daran anschließende Barbier-Wettstreit. Auch in der Leipziger Fassung muss man an diesen Stellen unweigerlich schmunzeln.

Michael Raschle als Turpin ist ein Ekelpaket wie es im Buche steht. Stimmlich wirken seine Passagen immer etwas nasal und gepresst, dafür ist seine schauspielerische Leistung großartig.

Ob es zusätzlich die Geißelungszene oder auch die Vergewaltigungs-Rückblende – die einzige Rückblende im gesamten Stück, das ansonsten auf solche Kniffe gekonnt verzichtet – wirklich braucht um Turpin in seiner Position als dem wahren Kriminellen des Stücks zu etablieren, darüber kann man sicherlich streiten.

Seit dem Umbau der Musikalischen Komödie spielt das hauseigene Orchester (Musikalische Leitung: Christoph- Johannes Eichhorn) hinter der Bühne. Im früheren Orchestergraben wurde eine Hebebühne installiert, von der im Stück reichlich Gebrauch gemacht wird. Etwa im Lied „an der See“ bei dem Mrs Lovett sich einen netten Urlaub mit ihrem geliebten Sweeney ausmalt.

Insgesamt ist die Leipziger Inszenierung „Sweeney Todd“ definitiv einen Besuch wert. Ein spielfreudiges und stimmgewaltiges Ensemble und ein gut gelungenes Kostüm- und Bühnenbild sorgen gemeinsam mit der vom hauseigenen Orchester live gespielten mitreißenden Musik von Sondheim für einen vergnüglich-gruseligen Ohrenschmaus.

Text: Julia Weber

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