1966 in New York uraufgeführt ist “Cabaret” (Musik: John Kander; Texte: Fred Ebb, Buch: John Masteroff) eines der bekanntesten Musicals. Mit der Inszenierung im Tipi am Kanzleramt kam das Stück 2004 “nach Hause” nach Berlin, wo auch die Handlung angesiedelt ist.
Bradshaw kommt Anfang der dreißiger Jahre nach Berlin. Er bezieht ein Zimmer am Nollendorfplatz und verliebt sich in Berlin und in Sally Bowles, eine Tänzerin aus dem Kit Kat Club. Seine Vermieterin Frau Schneider verliebt sich in ihren Mieter, den Obsthändler Herrn Schultz. Doch die Zeiten ändern sich. Das Ende der wilden zwanziger Jahre kündigt den Beginn des Nationalsozialismus an.
Die Inszenierung von Vincent Paterson existiert schon seit 2004. Damals in der Bar jeder Vernunft uraufgeführt, wurde das Stück 2014 im Tipi wieder aufgenommen. Alle Sprechtexte wurden auf Deutsch übersetzt. Bei den Liedern entschied man sich teilweise – etwa bei “Maybe this time” – für die englischen Originaltexte und verwendete an anderen – handlungsrelevanten – Stellen die deutsche Übersetzung von Robert Gilbert.
Das Bühnenbild (Momme Röhrbein) kommt ohne viel Schnickschnack aus. Die reale Welt, dargestellt durch Wände die zu Bradshaw’s Zimmer, dem Flur des Mietshauses oder dem Obstladen von Herrn Schultz zusammengeschoben werden, kontrastiert mit der bunten Welt des Kit Kat Clubs, in der sich alles vor einem silbernen Glitzervorhang abspielt. Eingerahmt wird die Handlung von zwei Zugfahrten. Die in diesen Szenen eingesetzte perspektivisch verjüngte Lokomotive sollte als schöner und vor allem effektiver Einfall Erwähnung finden.
Die Besetzung kann sich sehen lassen. Schauspielerisch wie gesanglich leistet die gesamte Cast hervorragende Arbeit. Während aller Spiel- und Gesangsszenen bleibt es auf dem Rest der Bühne selten ruhig. Niemand fällt auch nur für Sekunden aus der Rolle. Der Zuschauerraum wird ebenfalls mitbespielt. Die vierte Wand wird in den im Club spielenden Szenen permanent durchbrochen, das Publikum automatisch in die Handlung hineingezogen und ins Geschehen integriert.
Guido Kleineidam stand auch schon 2004 als Cliff Bradshaw auf der Bühne, ist aber immer noch mit Herzblut und viel Energie dabei. Von der Überforderung seiner Figur angesichts der holden Weiblichkeit in Gestalt Sallys bis hin zu seinem Entsetzen als er zum ersten Mal die Hakenkreuzbinde am Arm seines vermeintlichen Freundes Ernst sieht, ist sein emotionales Spiel absolut glaubhaft. Man wünscht diesem etwas seltsamen Typen ein Happy End, das er niemals bekommt.
Eine weitere starke Sympathieträgerin ist Regina Lemnitz als resolutes Fräulein Schneider. Lemnitz überzeugt nicht nur schauspielerisch, sondern beweist auch gesanglich Stärke. Kein Ton wackelt. Ihre Stimme ist auch in den Höhen noch absolut klar und harmoniert in “Heirat” hervorragend mit Uwe Dreves (Herr Schultz) Tenor.
Sophie Berners Sally Bowles ist gesanglich top. Ihre tiefe rauchige Jazzstimme passt perfekt in den Kit Kat Club. Schauspielerisch ist sie rollenbedingt etwas schwächer als Kleineidam und Lemnitz, schlägt sich aber wacker.
Oliver Urbanski ist ein souveräner Conférencier, beweist Witz und Charme und schwingt nicht zuletzt in “Säht ihr sie mit meinen Augen” elegant das Tanzbein. Lediglich der übertrieben starke deutsche Akzent in den auf Englisch gesungenen Passagen wirkt manchmal etwas aufgesetzt.
Anja Karmanski schließlich ist ein schreiend komisches Fräulein Kost, bei dem jede Geste und jeder Gesichtsausdruck für Erheiterung sorgen.
Die Band unter der Leitung von Adam Benzwi, immer präsent am linken Bühnenrand und mehr als einmal aktiv in die Handlung eingebunden, leistet großartige Arbeit. Die schmissigen Rhythmen zwischen Jazz und Ragtime, laden zum mitwippen ein, während die Melancholie der leiseren Nummern wie etwa „Der Morgen gehört mir“ (wundervoll gesungen von „Bobby“ Michael Chadim) beinahe zu Tränen rührt.
Dem Stück einen Berliner Unterton zu verleihen und es wirklich „heim zu holen“ ist ebenfalls in weiten Teilen gelungen. Fräulein Kost sprichst breitestes Berlinerisch und Sally findet den Nollendorfplatz toll, weil es dort so „schwu… ngvoll“ ist. Nicht vereinbar mit diesem Berliner Flair ist allerdings „Zwei Ladies“, dessen bayerische Lederhosennostalgie wohl ein Relikt der Perzeption Deutschlands durch die Amerikaner ist. Das Klischee an dieser Stelle zu bedienen ist die einzige Entscheidung im Stück, über die sich streiten lässt.
Beinahe 40 Jahre hat “Cabaret” bereits auf dem Buckel. Doch angestaubt ist die Geschichte um den jungen Schriftsteller Cliff Bradshaw definitiv nicht. Im Gegenteil – gerade angesichts der aktuellen Flüchtlingsproblematik gewinnt das Stück erneut an Aktualität.
„Cabaret“ macht betroffen und nachdenklich, doch das Stück macht auch jede Menge Spaß und garantiert einen vergnüglichen Theaterabend.
Text: Julia Weber