18.03.2013
Ein Musical über ein so ernstes Thema wie psychische Störungen? Ein Musical, das in der geschlossenen Anstalt spielt? Geht das überhaupt? Dass es geht, zeigen eindrucksvoll die jungen Ensemblemitglieder bei „Stimmen im Kopf“ von Wolfgang Böhmer (Musik) und Peter Lund (Text), einer Koproduktion der Neuköllner Oper mit dem Musical/Show-Studiengang der Universität der Künste.
Das Bühnenbild (Ulrike Reinhard) sieht aus wie ein Krankenhausflur. Vanillegelbe Wände mit einem blauen Streifen auf Betthöhe, einige blaue Türen führen in angrenzende Räume. Rechts hat man durch halb geschlossene Jalousien einen Blick aufs Ärztezimmer, links hinten spielt die Band in blauer Kleidung im OP
Mit „Willkommen im Club“ wird das Publikum auf der Station begrüßt. Die Musik von Wolfgang Böhmer ist durchweg stimmig, reicht von Rocknummern über Revuestücke („Visite“) bis hin zu ruhigen Balladen.Die Stücke sind neu komponiert, doch so ausgefeilt und eingängig, dass man glaubt, sie schon einmal gehört zu haben. Die Choreografien von Neva Howard in den Massenszenen sind hervorragend und die Synchronität und Akzentuiertheit des tanzenden Ensembles kann durchaus mit größeren Produktionen mithalten. Schon nach dem ersten Song wird klar: Was hier geboten wird, hat Potenzial, macht Spaß
und begeistert auch, weil die Texte von Peter Lund dem Publikum immer wieder ein Lachen entlocken.
Nadines Zimmernachbarin wird Karla, ausgebrannte Bankangestellte mit dissoziativer Kontaktstörung. Außerdem lernen wir Frau Dermici, die bekloppte Russin kennen (Venera Jakupov), das 23-jährige Missbrauchsopfer Jenny (Anna Pircher), die sich benimmt als sei sie fünf, Philipp (Patrik Cieslik), den hochbegabten Verschwörungstheoretiker mit den Ticks, und Herbert, die Pennerin vom Alex, die mit zwölf von zu Hause abgehauen ist, weil da nur ihr Trinkervater wartete.
All diese Patienten stehen unter der Aufsicht des gut aussehenden Assistenzarztes Dr. Thomsen (bedient jedes Klischee über den Halbgott in Weiß: Christian Funk) und der Stationsschwester Eva (Yvonne Greitzke). Die beiden sind ein Paar, doch Thomsen behandelt seine Freundin stets von oben herab. Er verschreibt viel zu starke Beruhigungsmittel, sie versucht mit den Patienten zu reden und diese zu verstehen. Die beruflichen Spannungen führen schließlich auch privat zum Eklat.
Dann gibt es da noch die jodelnde Amtsärztin (herrlich schräg, ebenfalls Verena Jakupov), die Herbert ins Heim stecken und ihren Hund einschläfern lassen will und den nett-liebenswerten BuFDi Hannes (Christian Miebach), der sich der Avancen der niedlichen Jenny nicht erwehren kann.
Das Musical entstand nach Gesprächen der Studenten mit psychisch Kranken. Die Szenen mögen überspitzt dargestellt, die Charaktere erfunden sein – doch die Geschichte bleibt immer glaubhaft. Vom morgendlichen Stuhlkreis, in dem die Aufgabenverteilung für den Tag besprochen wird, bis zur Musiktherapiestunde werden viele unterschiedliche Facetten des Alltags auf der Station beleuchtet, und hin und wieder fragt man sich, wer hier eigentlich „verrückt“ und wer „normal“ ist.
Nadine freundet sich mit den anderen auf ihrer Station an. Insbesondere mit Philipp versteht sie sich gut. Der Start ihrer Beziehung zu Herbert ist etwas holprig, doch nach einem gemeinsam gerauchten Joint („Komm, wir gehen fliegen!“) scheint die Welt in Ordnung.
Das durchweg junge und engagierte Ensemble wartet mit tiefem, intensivem Spiel auf. Jede einzelne der Rollen ist detailliert ausgearbeitet und durchdacht. Hinzu kommt, dass wirklich alle Ensemblemitglieder ausnehmend starke klare Stimmen haben. Besonders bemerkenswert sind hier Maria-Danaé Bansen (Karla), die vom gehauchten Piano bis zum verzweifelten Forte niemals wackelt und ein unglaublich berührendes „Ich schau zu“ singt, Larissa Puhlmann (Babsi), die in „Arme kleine
Schwester“ ihrer Wut Luft macht, und Marion Wulf (Herbert), die Nadine ein wütendes „Versprich mir nichts“ an den Kopf knallt, nachdem diese ihr anbietet, die Anzeige wegen Drogenbesitzes, die Herbert droht, durch eine Selbstanzeige abzuwenden.
Nadine-Darstellerin Theofanidis spielt durchweg stark und ist gesanglich solide, schreit allerdings in den lauteren Passagen oft ein bisschen zu sehr. Patrik Cieslik spielt die Rolle des Philipp intensiv und glaubhaft und fällt keine Sekunde aus der Rolle. Von Christian Miebach hätte man gern mehr gehört. So kommt seine klare Tenorstimme nur beim Schlaflied zur Geltung, das Hannes für Jenny singt. Jenny selbst ist keine große Gesangsrolle, verlangt Anna Pircher aber schauspielerisch einiges ab.
Neben den Sorgen und Nöten der einzelnen Charaktere, die mal in Solostücken mal im Duett (hier besonders hervorzuheben das Duett „Keiner außer mir“ von Daniel und Nadine), mal im Trio („Zu Hause“, gesungen von Jenny, Herbert und Nadine) ausgeleuchtet werden, lässt „Stimmen im Kopf“ aber auch die Angehörigen zu Wort kommen. So dürfen sich Babsi und Röder in einem Tango-Duett darüber auslassen, dass es keinen interessiert wie es ihnen geht, weil alles sich auf Nadine fixiert. „Auch normalen Menschen geht es schlecht.“
Überhaupt stellt sich immer wieder die Frage, wo die psychische Störung anfängt und was einen Menschen als krank definiert. Schwester Eva und Nadine haben ganz ähnliche Probleme, doch gilt eine als krank, die andere als gesund. Immer wieder wird auch klar, wie machtlos Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger und Angehörige den Erkrankungen gegenüberstehen. Der eine verschreibt Pillen, einer macht Gesprächstherapie und mancher versucht die Krankheit schlicht zu ignorieren und dadurch totzuschweigen. Aber im Endeffekt hat Karla recht, wenn sie sagt: „Entweder wir schaffen es selber, oder wir schaffen es gar nicht.“
Daniel (Dennis Dobrowolski), die Stimme in Nadines Kopf, wird eifersüchtig auf Philipp, und in einem verzweifelten Moment knallt Nadine ihrem neu gewonnenen Freund auf Drängen Daniels ein „Du bist verrückt!“ an den Kopf. Philipp, bisher der festen Ansicht, eine Seelenverwandte gefunden zu haben, ist am Boden zerstört.
Die Stationsdisco wird schließlich zum Schauplatz einer Tragödie. Herbert, die inzwischen nicht mehr glaubt, dass sie noch irgendwas vor der Willkür der Amtsärztin retten kann, betrinkt sich und springt aus dem Fenster.
Am Ende wird jedoch in mancher – jedoch nicht in jeder – Hinsicht alles gut, als Nadine realisiert, dass sie die Krankheit niemals loswerden wird, aber lernen kann, damit umzugehen. Sie entscheidet sich gegen Erlangen und für die Station, gegen Röder und für Philipp. Am Ende möchte man gerne wissen, wie die Geschichte weitergeht und was aus den lieb gewonnenen Figuren wird, und geht nach einer letzten Zugabe von „Willkommen im Club“ beschwingt, aber auch nachdenklich nach Hause.
Text: Julia Weber