Grenzerfahrung – Tränen und Schweiß beim Musical-Workshop

07.06.2014

Die Stage School Hamburg führt regelmäßig Intensiv-Workshops in ganz Deutschland durch, unter anderem auch in Berlin. Innerhalb einer Wocher wird ein komplettes Stück erarbeitet und mit Gesang, Tanz und Schauspiel auf die Bühne gebracht. Eine Erfahrung, die Spuren hinterlässt und vor allem eines klar macht: Musicaldarsteller sein, ist ein
Knochenjob. Das hat thatsMusical-Autorin Julia Weber jetzt am eigenen Leib erfahren. Ein Selbstversuch.

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Foto: Damon Jah

„Eure Arme sind eure Freunde und Freunde lässt man nicht hängen“, ruft Dozent Michael Kemper in die Runde. 42 junge Menschen – hier in Berlin 39 Mädels und drei Jungs – stehen in Reih und Glied, die Beine schulterbreit, die Arme ausgestreckt. Auf Zuruf gehen sie ins Plier, winkeln die Arme an und strecken sie mit dem nächsten Seitschritt wieder. Es ist der erste Tag des Stage-School-Workshops in der ufa Fabrik in Berlin. Schon nach einer halben Stunde Tanztraining wird klar, dass dieser Workshop kein Zuckerschlecken wird.

Die Beweggründe für die Teilnahme sind ganz unterschiedlich. Manche sind noch Schüler oder haben gerade die Schule abgeschlossen und träumen von der großen Musicalkarriere, andere erfüllen sich einen lange gehegten Traum, einmal hinter die Kulissen des Musicalbetriebs zu schauen. Auch die Vorkenntnisse sind unterschiedlich. Manche tanzen seit Kindertagen Ballett, andere haben seit fünf Jahren Gesangsunterricht, wieder andere stehen regelmäßig in ihren jeweiligen Stadttheatern auf derBühne.

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Foto: Frank Linke

Die Intensivworkshops sind offen für all jene, die Spaß am Musical haben, die gerne einmal singend, tanzend und schauspielernd auf der Bühne stehen wollen. Gleichzeitig können die Workshops als Aufnahmeprüfung für die Stage School gewertet werden. Auch aus diesem Grund – und um sich ein Bild von den Qualitäten der Teilnehmer machen zu können – findet am ersten Tag eine Audition statt. Nach dem Aufwärmtraining wird eine kurze Choreografie einstudiert und gleich darauf den vier Dozenten vorgetanzt. Paarweise wird eine Spielszene erarbeitet. Eine Situation soll nur mithilfe der Worte Ja und Nein dargestellt werden. Die Palette der Ideen ist vielfältig, reicht von der Zombie-Invasion bis zum Aufbau eines IKEA-Regals.

Schließlich wird einzeln vorgesungen. Einige der Teilnehmer haben sich eines der Stücke aus dem Notenheft vorgenommen, das zusammen mit der Workshop-CD zwei Wochen zuvor an alle Interessenten verschickt wurde. Andere bringen Stücke aus dem eigenen Repertoire mit. Applaus bekommt jeder, doch manche stechen besonders hervor. Eine der größten Rollen im Stück wird sofort an Sandra vergeben, die stimmlich wie  schauspielerisch absolut überzeugt. Andere Teilnehmer hören von Workshop-Leiterin Anja Launhardt ermutigende Worte: „Tust du mir einen Gefallen? Nimmst du bitte Gesangsunterricht? Du hast so eine natürlich schöne Stimme, da kann man so viel rausholen.“

Der erste Tag endet mit einem ersten Testsingen der beiden Ensemblestücke, die zum Ende des extra für den Workshop geschriebenen Stücks aufgeführt werden. Wer das Niveau von Schul- und Kirchenchörchen gewohnt ist, staunt nicht schlecht, über die Sicherheit und Schnelligkeit, mit der die Teilnehmer unter Anleitung von Jens Pape ihre Melodieparts lernen. Im Anschluss erfolgt die Einteilung in die Gruppen. Das Stück „Quick Change“, in dem es um den Umzug der Musicalschule in ein neues Gebäude geht, setzt sich aus Spielszenen und Tänzen dreier Gruppen zusammen. Erst ganz am Ende
der Probenarbeit, am Tag vor der Aufführung, werden die einzelnen Teile  zusammengeführt. Dies ist ein spannender Moment, da sich erst dann die ganze Erzählstruktur erschließt. Doch bis dahin ist es noch eine Weile hin.

Intensiv-Workshop heißt intensives Proben in den vier Sparten Tanz, Gesang, Schauspiel und Musical-Repertory. Auch Technikunterricht wird an die Teilnehmer herangetragen. Die Tage sind ausgefüllt und so manchem raucht nach acht Stunden Proben gehörig der Kopf. Einige der jüngeren Teilnehmer stoßen an ihre psychischen wie physischen Grenzen. Sowohl Schweiß als auch Tränen fließen in rauen Mengen. Doch Dozent Sven Prüwer erklärt trocken: „Nur wer seine Grenzen kennt, kann sie auch überschreiten“.

Was das im wahrsten Sinne des Wortes bedeutet, erleben die Meisten zwischen Tag drei und vier. Am einen Abend ist Treppensteigen eine Qual und der Muskelkater scheint immer nur noch schlimmer zu werden, am nächsten Morgen sind die Schmerzen schlagartig verflogen. Die mit Michael Kemper erarbeiteten Choreografien sind die einzigen Stücke, bei denen die Musik vom Band kommt. Alles andere wird live gesungen.

Sobald die mit Jens Pape erarbeiteten Gesangsnummern einigermaßen sitzen, übernimmt Anja Launhardt deren Choreografie. Musical-Repertory nennt sich diese Sparte des Unterrichts, die wohl das Musicaltypischste am ganzen Workshop ist. Es sind einfache Choreografien, die passend zu den Stücken auf die Bühne gebracht werden und deren Texte unterstützen. Dabei darf man nur eines nicht vergessen: Man muss multitaskingfähig genug sein, dabei immer noch zu singen.

Zugleich müssen die Workshop-Teilnehmer in ihren Rollen bleiben, diese lebendig und glaubhaft herüberbringen. Da beinahe jeder sehr lange Passagen hat, in denen er zwar auf der Bühne steht, aber nichts zu sagen hat, ist es wichtig, auch wortlos mitzuspielen und nicht zwischenzeitig aus der Rolle und in alte Gewohnheiten zurückzufallen. „Sender an“, ruft Sven Prüwer bei einer der ersten Kostümproben. „Du stehst schon wieder da wie ein Fragezeichen! Präsenz!“

In letzter Minute gibt es noch Probleme. Ein Teilnehmer springt ab und seine Rolle muss umbesetzt werden. Es sind nicht genug Taschenlampen für die Stromausfallszene da. Die Anlage für die Backings kommt erst am Samstagmorgen. Es herrscht beinahe ebenso großes Chaos im echten Leben wie im Stück.

Langsam wird es ernst. Am Samstag vor der Show nimmt die Nervosität langsam zu. Ein erster Komplettdurchlauf des Stücks hakt noch an allen Ecken und Enden. Texthänger,
Geschwindigkeitsverlust, zu leises Sprechen und bei den finalen Stücken „Verone“ und „We want it all“ klingen die Stimmen zu dünn und es fehlt plötzlich wieder die Hälfte vom Text. Die Generalprobe am Sonntag läuft minimal besser. Die Kritik von Anja Launhardt bewirkt jedoch genau das, was sie bewirken soll: Beim Auftritt will man alles richtig machen. Die 200 Zuschauer sollen das Beste zu sehenbekommen, was man in sechs Tagen zustande bekommen kann. Und genau das bekommen sie.

Etwas über eine Stunde erzählen die Workshop-Teilnehmer vom alltäglichen Wahnsinn des Schulumzugs. Da tauchen die Behörden auf und wollen sich versichern, dass die Eröffnungsshow stattfinden kann, dort gibt es einen Stromausfall und die Schüler müssen im Dunkeln proben, weil einer der Handwerker einen Fehler gemacht hat. Im Büro stapeln sich Umzugskisten, im Lehrerzimmer staubt es und der atmungsaktive Spezialputz fängt schon wieder an von der Decke zu bröseln – und zwischen all dem rennt die völlig verzweifelte Schulleiterin umher. Am Ende wird natürlich, wie sich das für eine Komödie gehört, alles gut.

Hier und da fließen Tränen, als sich die teilweise von weither angereisten Workshop-Teilnehmer voneinander verabschieden. Die gemeinsam erlebte Woche – für viele eine Grenzerfahrung – hat Spuren hinterlassen und zusammengeschweißt. „Wir sehen uns wieder“, hört man von überall. „Bei einem anderen Workshop.“ Manche werden sich vielleicht auch an der Stage School wiedersehen. Die Zusagen für diejenigen, die sich die Woche als Aufnahmeprüfung haben anrechnen lassen, werden jedoch noch etwas auf sich warten lassen.

Text: Julia Weber

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