Wilde Reise durch die Welt – “Candide” in der Komischen Oper Berlin

Wilde Reise durch die Welt – “Candide” in der Komischen Oper Berlin

Leonard Bernsteins Operette “Candide” entstand beinahe zeitgleich mit der “West Side Story”, ist jedoch nicht halb so bekannt. Der zugrunde liegende Stoff, Voltaire’s Novelle “Candide ou l’Optimiste”, ist eben sperriger und schwerer zu adaptieren als Shakespeare’s “Romeo und Julia”. Barrie Koskys Versuch einer Inszenierung an der Komischen Oper Berlin ist recht gut gelungen, auch wenn einen das quietschbunte Treiben und die ständigen Ortswechsel ein wenig atemlos zurücklassen.

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Foto: Monika Rittershaus

Candide wächst auf dem Schloss Thunder-Ten-Thronck auf. Dort wird er gemeinsam mit den Kindern des Schlossherren, Kunigunde und Maximilian sowie dem Dienstmädchen Paquette von Lehrer Pangloss unterrichtet, der ihnen vermittelt, in der besten aller möglichen Welten zu leben.

Dass dieser “Optimismus” nicht der Wahrheit entsprechen kann, wird Candide nach und nach klar. Zunächst wird er aus dem Schloss geworfen, als er versucht mit Kunigunde anzubandeln, dann landet er in der bulgarischen Armee, wird nach einem falsch verstandenen Spaziergang als Deserteur verfolgt, beinahe erschossen, in letzter Sekunde begnadigt und muss gegen seinen ehemaligen Hausherrn zu Felde ziehen.

Im Glauben, dass Kunigunde nicht nur mehrfach vergewaltigt sondern auch von den Soldaten getötet wurde, zieht er weiter nach Holland.

Kunigunde indes hat durch eine Fügung des Schicksals überlebt und verdient sich ihren Lebensunterhalt, indem sie ihre weiblichen Reize zu ihrem Vorteil einsetzt.

Die beiden finden nach einer wilden Odyssee durch die plötzlich auftauchende alte Frau (witzig und gewinnend: Fredrika Brillembourg) in Lissabon zueinander. Doch wieder müssen sie fliehen, da Candide inzwischen die Inquisition auf den Fersen ist. In Südamerika trennen sich ihre Wege erneut, als Kunigunde sich dem schmierigen Gouverneur (Ivan Turšić) anbietet um aus dem Gefängnis freizukommen in das man sie als illegale Einwandererin gesperrt hat.

Candide findet gemeinsam mit seinem Freund Cacambo (Timothy Oliver) den Weg nach Eldorado, wo er tatsächlich die beinahe beste aller möglichen Welten findet, in einer Gesellschaft, die im Überfluss lebt, aber in der niemand leidet. Da er aber Kunigunde, oder sein Idealbild von ihr, vermisst, macht er sich abermals auf den Weg.

Doch als sich die beiden schließlich in Venedig wiederfinden, realisieren sie das, was dem zuschauer bereits bei ihrem ersten Duett klar war: Sie haben völlig unterschiedliche Vorstellungen vom Leben und vertreten komplett unterschiedliche Werte.

Trotzdem ziehen sie schließlich gemeinsam mit den auf ihrer wilden Reise gefundenen Freunden aufs Land. “Wir müssen unseren Garten bestellen,” sagt Candide und krempelt seine Hemdsärmel hoch.

“Candide” ist ein wilder Ritt durch die Welt. ohne die erklärenden Erzählabschnitte wäre man als Zuschauer recht aufgeschmissen, der Geschichte folgen zu können. Dank dieser jedoch erschließt sich die Handlung in all ihrer Verrücktheit doch. Zum Glück nimmt sich das Stück selbst nicht allzu ernst. Immer wenn ein weiterer absurder Ortswechsel ansteht, fragt irgendeiner der Protagonisten “Warum denn?” und Voltaire (Franz Hawlata) antwortet nur: “Warum nicht?”

Bernsteins Musik, hervorragend live gespielt vom Orchester der Komischen Oper Berlin unter der Leitung von Jordan de Souza ist ebenso vielseitig und sprunghaft wie die Geschichte, wechselt teilweise mitten im Stück von Operette zu Musical, von Musical zu Oper. Trotzdem wirkt das Ganze nicht wie wild zusammengeschustertes Flickwerk, sondern bildet ein abgeschlossenes Ganzes. Der rote Faden der Geschichte, zum einen Candides Suche nach Kunigunde, zum anderen seine Erfahrungen, die ihm immer und immer wieder aufzeigen, dass es unfassbar viel Leid auf der Welt gibt und Pangloss Lehren samt und sonders Lügen waren, geht niemals verloren.

Johannes Dunz als Candide trägt die Hauptlast des Stücks mit Bravour. Nicht nur überzeugt er gesanglich auf ganzer Linie, auch emotional schafft er es, die Zuschauer mitzureißen. Diesem unglaublich sympathischen Typen, als den er Candide darstellt, wünscht man eigentlich nur Gutes und leidet mit, wenn immer und immer wieder die nächste Katastrophe über ihn hereinbricht.

Kunigunde hingegen ist dem Zuschauer recht schnell mehr als unsympathisch. Meechot Marrero spielt das geldgeile Luder mit großartiger Stimme und vollem Körpereinsatz.

Das Bühnenbild (Rebecca Ringst) ist einem dauernden Wandel unterzogen, um den stetig wechselnden Schauplätzen gerecht zu werden. Da gibt es den Galgen im Hintergrund, vor dem zunächst die Juden, dann die Geflüchteten erschossen werden und schließlich Candide und sein Lehrer hingerichtet werden sollen, die Rettungsboote mit denen die zusammengewürfelte Gruppe aus Europa nach Amerika übersetzt, der Käfig in den Kunigunde und die Alte Frau bei der Ankunft gesperrt werden. Kosky’s Inszenierung übt hier ganz offen jede Menge aktuelle Gesellschaftskritik. Auch die letzte Szene, in der eine riesige Weltkugel über die Bühne getragen wird, spielt gezielt auf die aktuelle Thematik der Klimakatastrophe an.

Wie immer bei Kosky geizt die Inszenierung nicht mit Effekten. Die Nebelmaschine kommt ebenso großzügig zum Einsatz wie Stroboskoplampen, Maschinengewehrfeuer und die unterschiedlichsten Lichteffekte. In der Eldorado Szene fällt minutenlang goldener Flitter von der Decke. Gemeinsam mit den extravaganten Kostümen, die sich aus verschiedensten Epochen vom Barock bis zur Moderne bedienen (Klaus Bruns) ist “Candide” ein bunter, verrückter Augenschmaus geworden.

Das Stück endet nur halb-versöhnlich, erlaubt seinen Figuren aber kein glückliches Ende, sondern lediglich ein erträgliches Ende und ist damit beinahe schmerzhaft realitätsnah. Trotzdem ist “Candide” in jeder Hinsicht einen Besuch wert.

Text: Julia Weber

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