Starke Bildsprache gegen das Vergessen – “Lamento” Ballettabend in der Oper Leipzig

Die Oper Leipzig widmet dem 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz-Birkenau einen Themenschwerpunkt der Saison 2019/2020. In einem zweiteiligen Themenabend präsentiert das Ballett der Oper Leipzig zwei Choreographien von Mario Schröder, “Blühende Landschaft” und “Sinfonie der Klagelieder.” Die Themen: “Liebe, Trauer, Abschied und Sehnsucht nach Freiheit”.

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Foto: Ida Zenna

Schuhe, Schuhe überall. Die ganze Bühne ist voller Schuhe. Bis die Straßenkehrer kommen und sie wegfegen. “Blühende Landschaft” thematisiert zum einen die nicht eingelösten Versprechen der Nach-Wende-Zeit, zum anderen aber auch die Versprechen und Hoffnungen der heutigen Zeit. Mario Schröder bemüht sich um eine Symbiose von Musik und Tanz. Die visuelle Darstellung der Musik erfolgt nicht nur sinngemäß sondern auch auf musikalischer, direkter Ebene. In “Blühende Landschaft” wechseln sich langsame Sätze aus Udo Zimmermanns Konzert für Violoncello und Orchester “Lieder von einer Insel” mit schnelleren Sätzen aus den Werken von Johann Sebastian Bach ab. Die Bach-Sätze sind dabei um einiges einfacher zu erfassen und zu verstehen, da hier choreographisch stärker mit Rhythmus gearbeitet werden kann. In den langsamen Sätzen werden Zitate aus verschiedenen Gedichten auf die Wände der Bühne projiziert. Alle Gedichte beschäftigen sich in gewisser Weise mit Trauer, Verlust und Abschied. Im Tanz werden diese Themen aufgegriffen und verbunden zum einen mit dem Hintergrund der Leipziger Geschichte aber auch zum Hintergrund der Tänzer, deren Ankunft in der Stadt und ihrer Sehnsüchte und Träume.

“Blühende Landschaft” wurde schon 2013 uraufgeführt, “Sinfonie der Klagelieder” ist hingegen eine neu entwickelte Choreographie. Es handelt sich um ein Stück über Trauer, aber auch über Hoffnung und wird zur gleichnamigen Komposition von Henryk Mykolaj Gorecki getanzt. Gorecki komponierte die Musik in Erinnerung an den zweiten Weltkrieg. Sie vereint drei verschiedene Klagelieder mit einem finalen, hoffnungsvollen Satz. Den Beginn bildet das Klagelied der Maria um den toten Jesus Christus. Musikalisch angelegt als Kanon und tänzerisch ebenso umgesetzt, bewegt sich dieselbe Melodie als vielstimmiger Trauermarsch durch verschiedene Kirchentonarten.

Der zweite Satz beruht auf einem Text, den eine junge Gefangene im Jahr 1944 an die Wand ihrer Gefängniszelle im Gestapo-Hauptquartier schrieb. Die Choreographie greift die Thematik der Gefangenschaft auf. Gläserne Käfige senken sich von der Decke über einzelne Tänzer oder Tänzergruppen. Wie überlebt man Gefangenschaft? Wie überlebt man Isolation ohne verrückt zu werden? Diese Fragen werden gestellt, die Panik der Eingesperrten ist für den Zuschauer sichtbar und fühlbar.

Den dritten Teil bildet der Text eines oberschlesischen Volksliedes, in dem erneut eine Mutter um ihren Sohn trauert und seine Mörder anklagt. Dadurch, dass hier auch die Melodie an das Volkslied angelehnt ist, wirkt der Satz im Vergleich zu den vorangegangenen leichter und beinahe hoffnungsvoll, ein Gefühl, das auch durch die Choreographie aufgegriffen wird.

Der Bezug zu Auschwitz wird insofern deutlich, dass während eines Teils des Tanzabends schwarze Tücher auf die Bühne hinabschweben, die an Überreste verbrannter Kleidung oder Papiere erinnern.

Musikalisch wie tänzerisch ist “Sinfonie der Klagelieder” leichter zugänglich als “Blühende Landschaft”, da die Sinfonie eine in sich geschlossene Einheit bildet, in die man sich “hineinhört”. Die krassen Brüche im ersten Teil sind dagegen eher irritierend. Hinzu kommt die wunderschöne Sopranstimme von Lenka Pavlovič, die den Zuhörer in “Sinfonie der Klagelieder” in ihren Bann zieht.

Interessant sind die Rückgriffe Schröders auf frühere Motive aus “Blühende Landschaft” in “Sinfonie der Klagelieder”. Im ersten Teil des Abends gibt es eine Szene in der immer wieder Tänzer stürzen, scheinbar nicht mehr folgen können, aus der Reihe tanzen und – daraufhin – zurückgelassen werden. Auch in “Lamento” gibt es diese Momente des Versagens, des Fallens, doch wird den Gefallenen bereitwillig aufgeholfen. Hier wird niemand zurückgelassen.

Am Ende schließt sich der Kreis, wenn die Tänzer eine bunte Sammlung großer und kleiner Schuhpaare auf der Rampe platzieren.

“Lamento” ist sicherlich alleine schon durch seine Thematik kein leichter, fröhlicher Ballettabend, doch die Choreografien und die Musik sind spannend anzusehen und anzuhören und lohnen einen Besuch.

Text: Julia Weber

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